Samstag, 18. April 2009

Pop ohne Anfassen.

Lieber, ach was sag ich, werter Freund und Kupferstecher Kasbohm!

Wenn einer zum Thema Pop promoviert, dann sind das ja wohl Sie. Eine sehr hübsche soziologische Betrachtung in Sachen U-Musik, mein Kompliment. Aber wie schon einer meiner früheren Vorgesetzten (im Idiom des Rheinlandes) zu sagen pflegte: »Dat muss Eier haben, hömma!« Brachial, aber treffend. Denn in erster Linie muss mich Musik, gleich welcher Ausrichtung, mal so richtig packen. Am Herzen, im Hirn, im Magen, an der Tränendrüse und, ja, auch im Schritt natürlich. Ich kann mich nicht daran erinnern, bei ABC jemals auch nur nebelfeuchte Augen bekommen zu haben, während ich letzten Samstag bei Curtis Mayfield vor Begeisterung nahezu eine komplette Rolle Haushaltstücher verbraucht habe. (Zugegeben – das passiert mir auch bei Filmen wie „Drei Mann in einem Boot“ oder „Die Zürcher Verlobung“, aber dafür krieg ich als privat Krankenversicherter wenigstens Spritzen.) Theoretische Begründungen pro oder versus Elektropop also mal außen vor: ich hoffe, dass Sie mir nicht weismachen wollen, dass ein E-moll-Akkord, der, von einer Gibson Les Paul erzeugt, seinen Weg durch einen Marshall-Verstärker findet, einem Tastatur-Knopfdruck gleich zu setzen wäre. Falls doch, komme ich bei nächster Gelegenheit unangemeldet bei Ihnen vorbei und nehme Ihnen alle Platten weg, für die sie sich jetzt argumentativ ins Abseits manövriert und somit unwürdig erwiesen haben. Strafe muss sein, Kasbohm. Bei aller Sympathie. 

 

Nachdenklich macht mich vor allem, dass Sie mich nicht nur als Rocker, sondern sogar als alten Rocker sehen. Rocker sein hat nämlich per se schon so viel Gestriges. Grauer Vollbart, Harley-Davidson. Auf die alten Tage nochmal Dosenbier. Und alle Platten der Grateful Dead im Schrank. Eigenartig, dass sich bei vielen Anhängern der Rockmusik im gesetzten Alter viel eher der Wunsch manifestiert, alles nochmal zu machen, nur weil man früher mal dabei war. Droht mir am Ende ein ähnliches Schicksal in 20 Jahren? Werde ich einen Motorradführerschein machen und nach einem Frontalcrash mit einem Wildschwein auf der Landstraße zwischen Valencia und Tarragona meine Gliedmaßen zusammensuchen? Ungerecht, aber vermutlich dürfen Pop-Fans sowieso würdiger altern. Ich für meinen Teil habe noch nie etwas von Alt-Poppern gehört. Aber mal abwarten. Wenn George Michael in 15 Jahren Kohle braucht – was dann?

 

Dass Synthesizer nicht lügen, halte ich für eine gewagte These, die sie noch einmal hinterrücks und dazu noch im Schlaf niederringen wird. Für meine Begriffe hat Stevie Wonder den Soul verraten, als er sich von Herrn Kurzweil diesen Kasten bauen ließ. Bis dahin war Musik zwar stromverstärkt, aber nicht synthetisch. Ich persönlich traue einem Fender Rhodes oder einer Hammond B3 arglos über eine Schnellstraße, während ich mir von den Computertürmen der Pet Shop Boys nicht einmal das Badezimmerlicht anknipsen lassen würde. Von 1996 bis 1998 hatte ich tatsächlich eine musikalische Phase mit diesem Duo. Aber selbst wenn ich heute „Rent“ oder „Heart“ höre, fällt mein Blick ganz unwillkürlich immer auf irgendwelche Steckdosen in meiner Wohnung. Und ich muss an Plastikblumen denken. Hübsch. Aber ein großer Schwindel. Wie alkoholfreies Bier. Oder Küssen ohne Zunge. Mir völlig unverständlich, wie der Stuckrad-Barre schamlos verraten kann, dass er jeden Tag mit einem Lied der Pet Shop Boys beginnt. Wenn gleichzeitig Artikel seiner Federführung kursieren, wie toll es gewesen sei, bei Oasis damals einen Schuh vor der Bühne verloren zu haben. Hinter verschlossenen Türen soll doch jeder hören, was ihm beliebt. Aber das sagt man doch nicht auf einer Bierkiste im Park!

 

Natürlich führt mich meine musikalische Sozialisierung alle Jubeljahre ebenfalls erneut auf gefährliche Rumpelpfade (auf den Wegweisern stehen dann immer Namen wie „Trevor Horn“). Am darauf folgenden Morgen räume ich die Platten, die ich nächtens davor gehört habe, aber immer verschämt wieder in den Schrank zurück. Könnte ja zufällig jemand vorbeikommen, einen Blick auf meinen CD- oder Plattenspieler werfen und beiläufig sagen: »Du hattest gestern einen Duran-Duran-Abend? Aha. Und du besitzt das Remix-Album von Heaven 17?« Auf solche Fragen hätte ich nichts Adäquates im Kleinhirn parat. Natürlich sind musikalische Todsünden vollkommen unerheblich, wenn man ansonsten ein relativ angenehmer Zeitgenosse ist. Aber wir leben schließlich in einer Zeit, in der bis ins Detail alles stimmen muss. Und wollen Sie von einer weiblichen Neuerwerbung mit einer Barry-Manilow-Scheibe unterm Arm erwischt werden? Eben. Die richtige Platte zur richtigen Zeit auflegen zu können, ist im MP3-Zeitalter nicht nur eine langsam versickernde Kunst, sondern – wenn man mich fragt – auch genauso wichtig, wie der überlegte Griff in den Kleiderschrank. Für manche Zeitgenossen gilt: „Hose grün, Pullover blau – ich studier Maschinenbau“. Da geht dann auch Bon Jovi.

 

Schlagzeile des Tages: »Vermummte Mädchen jagen Tokio Hotel! Ist Tom deshalb ausgerastet?« (Nee. Tom ist ausgerastet, weil er ein neurotischer Teenager mit ungeklärter, sexueller Präferenz ist. Da können einem schon mal die Nerven durchgehen.)

 

Die Tage mehren sich, an denen ich mich wie Bolle freue, so alt zu sein, wie ich gerade bin.

 

Gott zum Gruße! Rekonvaleszieren Sie schön.

VDL

Keine Kommentare: