Dienstag, 11. Mai 2010

Berg heil.




Grüß Gott, lieber Wanderfreund Kasbohm.


Da sitze ich nun wie so oft auf der schönen dänischen Nordseeinsel Rømø, die neben dem breitesten Sandstrand Nordeuropas auch ein skurriles Überangebot an niemals gebuchten Ferienhäusern bietet und schaue auf den Golfplatz vorm Fenster. Nicht dass ich jetzt schon Golf spiele, aber der Platz liegt eben zufälligerweise direkt vor "meinem" kleinen, ollen Ferienhäuschen und der Strand ist überflutet, weshalb es sich dort schlecht landsegeln lässt. Dieses kleine Ferienhäuschen verfügt übrigens auch über ein Fernsehgerät, welches ich aber eigentlich nie einschalte. Denn meistens (oder eigentlich immer) gibt es auf dieser Insel andere, sinnvolle Dinge zu tun. Ein Blokart irrwitzig schnell über den Strand bewegen, den Sonnenauf- oder -untergang anschauen, halbe Schweine und ganze Fische grillen, sich gegenseitig eine Frisbeescheibe zuwerfen oder einfach nur die Meeresbrise schnuppern und ein paar Gläser Irgendwas dazu trinken. Für mich ist dieses Eiland schon ziemlich nah dran an der heilen Welt. Und das bringt mich wieder auf den Fernseher. Der lief nämlich doch. Am Donnerstag. Einmal. Für eine Dreiviertelstunde. Und auch wenn ich jetzt zukünftig ein wenig putzig angeschaut werde: ich habe "Der Bergdoktor" geschaut. Und zwar deshalb, weil ich das immer tue, sofern der im Fernsehen läuft. Jetzt sind Sie platt Kasbohm, gell? Tja.


Die modernen, aufgeklärten und halbwegs intelligenten Menschen von heute kann man ja irgendwann zum Auspacken pikanter Details aus dem Schlafzimmer nötigen, aber wenn es um TV-Gelüste geht, gibt ohne Stromschläge, Wasserfolter oder Schlafentzug keiner zu, dass er um 20.15 die Bude verrammelt und das Telefon ausstöpselt, wenn das Traumschiff losfährt. (Ich hab ein Alibi, ich schau dann immer tatort.) Warum ich also heuer ohne Not so offenherzig bin? Weil Sie vollkommen recht haben, Kasbohm. Wenn man älter wird, soll man sich nicht gehen lassen, aber wenn der Anzug mal spannt (oder Ihr Hemdenknopf verlustig geht, wie unlängst in der Hasenschaukel), dann kann man darüber auch mal hinweg sehen. Über den Bauch. Und ganz selbstbewusst die eigenen Schwächen zwar nicht kultivieren, aber dennoch statthaft zum Besten geben. Eine meiner Schwächen ist nun schon seit zwei Jahren der "Bergdoktor" und den schaue ich. Basta. Ich hab schließlich gute Gründe dafür. Die Hauptfiguren dieser Serie agieren nämlich so erstaunlich gut und glaubwürdig, dass ich mich dieser Schmonzette nicht erwehren kann, so sehr ich das auch probiere. Wenn man mal auf Nuancen achtet, unterscheiden die sich vor allem auf höchst angenehme Weise von den Serienteilnehmern aus dem bayerischen Wald oder den allwöchentlich hölzernsten 45 Minuten, wenn sich die "Küstenwache" hanebüchen durch die Ostsee schaukelt. In solchen Serien wird "dargestellt" und nicht geschauspielert. Und man nimmt den Protagonisten rein gar nichts ab, schon gar nicht ihre Rolle. Ein Indiana-Jones-Hut und ein Deutsch-Drahthaar machen aus Hardy Krüger Jr. jedenfalls keinen Förster. Während beim Bergdoktor der Hauptdarsteller Hans Sigl ohne erkennbare Requisiten im Handumdrehen einfach ein Arzt aus den österreichischen Bergen ist. Und darüber hinaus einen wunderbar bauerngrünen Mercedes-Benz W-123 mit Holzkugeln auf den Sitzen fahren darf, worum ich ihn sehr beneide. Um den Mercedes, nicht um die Holkzkugeln. Auch wenn die ja sehr gesund sein sollen.


Gemein sind (neben dem Vorspann) bloß die wöchentlichen Nebenhandlungen. Oder Haupthandlungen, wenn man so will, weil das ja immer noch eine Arztserie ist, bei der der Arzt irgendwann auch mal seinem Broterwerb nachkommen muss. Die Krankheitsfälle und Geschichten, für die oftmals verdiente deutsche Fernsehgesichter in die Berge reisen und sich dort filmen lassen, sind so grauenhaft vorhersehbar, gemein schmalzig und gnadenlos überzogen, dass es einen schüttelt. Obendrein suchen sich die medizinischen Berater der Serie die tollsten Krankheiten aus dem Ärztebuch heraus und wenn man den Bergdoktor regelmäßig schaut, bekommt man durchaus Angst, mal nach Ellmau in Tirol zu fahren, denn in diesem Epizentrum des Krankseins beißt man aller Wahrscheinlichkeit nach schneller ins Gras, als in Tschernobyl oder Baku. Man fragt sich auch, wie der Sigl Hans das aushält. Ich persönlich habe ja keine Ahnung von solchen Sachen, könnte mir aber vorstellen, dass man sich als Schauspieler unwohl fühlt, wenn man gerade abgedrehte tolle Szenen zunichte machen muss, weil die nächste Einstellung verlangt, dass man mit einem Seuchenanzug durch ein Krankenzimmer in Tirol tapst. Würden die wöchentlichen Fälle von Lungenpest, Hirnfraß oder Autoimmunerkrankungen, die vermutlich höchstens 0,08 Prozent der Weltbevölkerung befallen, auf ein Mindestmaß reduziert und stattdessen hauptsächlich die Familiengeschichte des Dr. Gruber vor schicker Kulisse gezeigt werden, dürfte die Jury den Grimme-Preis vermutlich sogar persönlich nach Ellmau bringen. Die fein erzählten Stories, netten Running-Gags und Protagonisten, die sich spürbar Mühe geben, wären es wert. Auch, wenn wir hier nicht über großes Kino sprechen. Sondern über eine moderne Mixtur aus der "Geierwally" und "Dr. Prätorius". Bloß mit erstaunlich viel Stil.


Sowieso: warum muss es neben der Haupthandlung immer drei bis sieben Nebenhandlungen geben, zwischen denen das Drehbuch hypernervös hin und her hoppelt? Nehmen Sie mal den "Forellenhof" von 1965, eine "Familiengeschichte von Heinz Oskar Wuttig". Da gingen die einzelnen Episoden sogar fast eine Stunde. Und Hans Söhnker frühstückte in schwarz-weiß gute 5 Minuten lang mit seiner Filmgattin Jane Tilden und redete, was man eben so redet, wenn man nebenbei Brötchen halbiert oder Dosenmilch in den Kaffee gießt. Stoppen Sie mal mit, Kasbohm. Die Szenenwechsel im Fernsehen passen sich selbst bei den öffentlich-rechtlichen Sendern zeitlich langsam den Werbeplätzen an. 60 Sekunden müssen da für eine Einstellung reichen, sonst bekommen die Produzenten allem Anschein nach Bammel, dass der Zuseher zum Kühlschrank rennt, sich einem Kreuzworträtsel zuwendet oder beginnt, einen Quilt zu nähen. Wo ist die Kunst der langen Einstellung geblieben, die es Schauspielern ermöglichte zu SPIELEN und das Publikum mit Mimik, kleinen Gesten und schönen Worten für eine Geschichte einzunehmen und auf dem Sessel festzutackern? Heute muss alle eineinhalb Minuten ein Schwerlasttransport durch irgendein Wohnzimmer rauschen, damit das Publikum vor der Glotze nicht einnickt. Was ich persönlich eigenartig finde, denn durch mein Wohnzimmer rauschen nur äußerst selten Schwerlasttransporte und noch nicht einmal Omnibusse. Dafür halbiere ich weitaus öfter Brötchen oder gieße Milch in meinen Kaffee. Ist das echte Leben nicht mehr echt genug fürs Fernsehen? Und daher nicht wert, das Publikum zu unterhalten? Benötigt der Fernsehzuschauer von heute tatsächlich immerzu und ausschließlich Momente auf der Mattscheibe, die er selbst nie erleben wird?


Dabei sind die "Formate" hierzulande ja durchaus vorhanden. Zum Beispiel "Doktor Martin" mit dem hervorragenden Axel Milberg. Und der Bergdoktor könnte sich da gleich hintendran einreihen, wenn sich die medizinischen Berater und Drehbuchautoren mal auf das Wesentliche konzentrieren würden. Nämlich aufs Leben. Anstatt aufs Kranksein oder Sterben an nie gehörten Krankheitsbildern, für die vermutlich sogar weltweite Selbsthilfegruppen aus gerade 4 Menschen (davon zwei Angehörige) bestehen. Wo wir schon beim Dahingehen sind: die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Und die nächste Staffel Bergdoktor wird, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, demnächst gedreht. Blöderweise liest uns ja keiner (erst recht keine Drehbuchautoren des ZDF), aber man weiß trotzdem nie. Vielleicht zupfe ich die auch mal am Ärmel, wenn ich im September in die Berge fahre, um dort ein paar Tage Urlaub zu machen. Jawoll Kasbohm, ich schaue mir die wunderbare Kulisse und die halbwegs heile Welt mal in Farbe und ohne störende Glasscheibe dazwischen an. Und freue mich schon wie dusselig auf eine zünftige Tour im Wilden Kaiser, mit schmerzenden Knien und einer leckeren Brotzeit auf der Alm, wo es bekanntlich keine Sünde gibt. Oder wenn, dann nur hinter rot-weiß karierten Gardinen, was die Sünde umso interessanter und weitaus begehrenswerter macht. Ich liebe das Mittelmeer, aber selbst in Italien sind die Tischdecken auch nur noch selten rot-weiß kariert. Mal schauen, wie das in dieser Ecke Tirols so ist.


In Amerika schwappt das Öl in die Kinderstube der Natur, weil man sich bei der Vergabe der Bohrlizenzen 500.000 Piepen für eine Sicherungseinrichtung gespart hat (die es übrigens in Europa bis auf Norwegen auch nicht gibt – obwohl man für diese Summe noch nicht einmal eine geräumige Vierzimmerwohnung in Hamburg-Ottensen erwerben kann). Griechenland ist pleite, Spanien und Irland klamm und Portugal fragt auch bald nach einem Vorschuss auf Taschengeld. Das Leben ist kein Bauernhof.


Aber manchmal eben doch. Sonst hält man das doch alles auch nicht aus.


Servus,

Ihr Freund des Bergfilms,

VDL