Freitag, 13. November 2009

In Space.



Lieber Abstinenzler Kasbohm!


Tick, Trick und Track, "Drei Mann in einem Boot", Queen ohne Freddy Mercury: Aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei, auch wenn mir das in diesem Fall so gar nicht glatt den Schlund herunterrutschen mag. Dreimal dürfen Sie jetzt meinetwegen raten, aber Sie sind ja ein schlauer Tausendsassa und kommen sofort drauf: NATÜRLICH war unsere hier so lauschig verortete Konversations-Kolchose nicht als Ort der inneren Selbsteinkehr gedacht, sondern als gepflegte Unterhaltung. Und nun reihen sich meine blödsinnigen Beiträge von Ihnen völlig ununterbrochen aneinander, so dass unsere vier Leser schon dreimal den einen gleichen Verfasser ertragen mussten. Völlig verzweifelt habe ich ja sogar schon in Betracht gezogen, als Ihr Geistschreiber zu fungieren und mich über kasachische Kulinarik auszulassen, aber das erschien mir doch zu unredlich. Man darf sein Publikum nicht bescheißen. Wir sind ja nicht Britney Spears.


Nun ist während unserer langen Sommerpause eine ganze Menge geschehen. Themenstau sozusagen. Mon Cheri ist beispielsweise wieder da! Die Blätter fallen unablässig von den Bäumen (vermutlich Schweinegrippe – ich erkenne da Zusammenhänge). In der Opel-Kantine gibt es auch weiterhin Donuts. Merkel regiert als Juniorpartner der FDP. Oder bemüht sich wenigstens nach Kräften, so auszusehen. Irre. Man glaubt gar nicht, was in zwei Monaten so alles passieren kann. Und weiß natürlich erst recht nicht, was man zuerst besprechen soll. Am besten fährt man immer mit den wichtigsten Themen. Also solche, die die Menschen wirklich betreffen und berühren, in dieser unsicheren Zeit der Krise, der Pandemie und des Verfalls. Also. Ich habe letzten Freitag THE FLAMING LIPS gesehen.


Wie ich Ihnen gegenüber im Vorbeihuschen erwähnte, durfte ich am letzten Wochenende dem ROLLING STONE WEEKENDER am Weißenhäuser Strand an der lieblichen Ostsee beiwohnen, dort viele famose Bands und Einzelinterpreten bewundern und wie doof beklatschen. KETTCAR eröffnete den Reigen. Die gehen mir ja normalerweise recht schnell auf den Pinsel, weil der Sänger immer so singt, als läse er Möbelkataloge vor. Versmaß wie ein Telefonbuch. Und dazu brettern dann die Gitarren. Bislang ist jedes Album von denen spätestens nach dem vierten Stück bei mir aus dem Schacht geflogen. ABER! Die Songs umarrangiert, ein Streichquartett mitgebracht, Kronleuchter auf dem Boden drapiert: Das tat recht fix Wirkung. Spätestens bei "Landungsbrücken raus" war ich so ergriffen, dass ich die Kameras, die das Wochenende für eine "Rockpalast"-Folge auf Film bannten, meiden musste. Wie immer stand ich exaltiert in der ersten Reihe und die Fernsehnation hätte sich dann demnächst gefragt, ob dem Mann da vorne irgendwas wehtut. Famos! Nur die billigen Anzüge... aber man soll ja nicht kleinlich sein. Ein in meinem Gedächtnis kurzes, aber sehr lustiges Intermezzo gaben THE SOUNDTRACK OF OUR LIVES aus Schweden. Eine Kreuzung aus Joe Cocker und einem Braunbären im Kaftan als Sänger sowie ein Leadgitarrist, der per Zeitmaschine direkt von 1974 zu uns ins Jetzt geflogen kam. Stilecht mit Röhrenhose und Kawasaki-Bart. Außerdem dachte ich immer, dass nur noch bei den Scorpions eine Flying-V gespielt wird. Jedenfalls haben die ordentlich auf den Gong gehauen. Vollgas, Riff an Riff, keine Gnade. Sehr laut, sehr unterhaltsam. Ich brauchte eine Pause. Die holte ich mir bei der Lesung von Heinz Strunk, der wirklich brutal lustige Passagen aus seinem Werk "Fleckenteufel" zum Besten gab. Ich höre Sie schon, Kasbohm: Dass ausgerechnet mir dieser Fäkal- und Pups-Humor gefällt, war Ihnen klar, oder? Aber da gehe ich mal ganz nonchalant drüber weg.


Von den EDITORS sah ich nur noch den Schluss und postierte mich gleich nach dem Verklingen des letzten Akkords der britischen Mädchenträume ganz vorne an der Bühne, denn die Headliner des Freitags standen auf dem Programm. Nun muss ich erklärend hinzufügen, dass ich am letzten Freitag nur ein einziges Album der Flaming Lips besaß: "At War with the Mystics". (Hervorragend!) Außerdem wusste ich aus Erzählungen und Magazinen, dass diese Truppe eine recht exaltierte Bühnenshow zu veranstalten pflegt. Aber schon der Soundcheck war schräger, als alles was ich bislang gesehen habe. Innerhalb von fünf Minuten war die Bühne rammelvoll. Und zwar ausschließlich mit (meist dilettantisch) orange beklebt und bemaltem Equipment. Bis auf einen Fender Jazz-Bass und zwei (mit Handys und Fahrradklingeln ausgestattete) Gitarren war tatsächlich alles in der scheinbaren Hausfarbe der Lips gehalten. Ebenso ungewöhnlich wie angenehm fern jeglicher Allüren: Lips-Impresario Wayne Coyne betrat mit den Roadies die Bühne, wuselte zwischen den Verstärkern herum, überwachte das Hereinrollen der Videowand und plauderte angeregt mit dem Publikum. Ein stetig brummender Gitarrenmonitor verhinderte einen pünktlichen Anfang und mit 10 Minuten Verspätung ging es dann los. Damit Zeitgenossen, die die Flaming Lips in der nächsten Zeit noch sehen werden (ich hoffe SEHR auf ein paar Deutschland-Konzerte im kommenden Jahr) nicht der ganze Spaß genommen wird, schweige ich mich an dieser Stelle über einzelne Programmpunkte aus. Einigermaßen Eingeweihte dürfen im Kopf jetzt Häkchen setzen: Wayne Coyne im Space-Ball ++ Konfetti-Kanonen, mit denen man Kriege entscheiden kann ++ Rauch (VIEL Rauch) ++ Ballons (VIELE Ballons) ++ Eisbären ++ Gorilla ++. Insgesamt eine Veranstaltung, als wäre man auf LSD im Ikea-Bällebad. Ein übergeschnapptes Parallel-Universum, in dem rund um die Uhr Kindergeburtstag gefeiert wird. Es dauerte bis kurz nach dem Opener "Race for the Price", bis ich auch den letzten Winkel meiner musikalischen Seele vollends den Flaming Lips überschrieben hatte. Bislang hätte ich keine 20 Piepen darauf gesetzt, dass ich mit 41 Jahren nochmal zum durchgeknipsten Party-Bären mutiere und debil grinsend in einem Zelt am Ostseestrand durch knietiefe Konfetti-Fluten hopse, als hätte man mir Stromstöße verabreicht. War aber so. Womit ich allen Lesern, ja der gesamten Menschheit gar, an dieser Stelle die Flaming Lips ganz warm ans Herz legen möchte. Erstens beschäftigen die sich in ihrem Gesamtwerk stets mit den wichtigen Dingen des Lebens: Liebe, Tod, überdimensionale Hasen. Zweitens kommen sie aus Oklahoma City, wo meines Wissens niemand sonst herkommt. Drittens trägt Wayne Coyne extrem geschmackvolle Anzüge und macht überhaupt keinen Hehl daraus, dass er ein grauenhafter Sänger ist. Und viertens hören Alben und Songs der Lips auf Namen wie "Guy who got a headache and accidentally saves the world" oder "UFOs at the Zoo". Ich könnte jetzt noch zwanzig weitere Gründe aufzählen, aber verweise lieber auf einen Satz von Jürgen Ziemer (Rolling Stone): »Nur ganz große Künstler sind zu solchem Wahnsinn fähig.«


War noch was? Ach ja! Der Samstag. Wilco waren toll. Musikalisch die wohl beste Band der Welt.


Für mich noch schöner war dann allerdings der Montag. Auch für meinen Plattenverkäufer. Ich erwarb sieben Alben und eine DVD der Lips. Ich hatte noch mehr auf dem Zettel, aber das war alles, was sich im Fach befand. Der Rest ist bestellt. Übrigens ziehe ich meine unlängst getätigte Äußerung hiermit zurück: Das neue Werk "Embryonic" ist tatsächlich ganz furchtbar. Aber vielleicht fehlen mir auch bloß die richtigen Rauschmittel dafür. Gestern musste ich dennoch dem starken Drang widerstehen, mir einen Flug nach Oklahoma City zu buchen. Die Lips spielen dort zum Jahreswechsel und werden Pink Floyds "The Dark Side Of The Moon" neu interpretieren. Ein harter Verzicht. Deshalb erwarte, ja VERLANGE ich GEZIELT an Ihrem heutigen Hasenschaukelauflegeabend mindestens drei FL-Stücke. Lindern Sie meine Pein bitte mit "Free Radicals", "Fight Test" und vielleicht "Jesus shootin' Heroin". (Und wenn Sie ganz mutig sind: wie wär's mit "Aquarius Sabotage" von der neuen Platte? Aber dann landen Sie vermutlich in der MOPO. »DJ treibt Clubbesucher in den Wahnsinn! Festgenommen!«) Der Ball liegt bei Ihnen, Kasbohm. So wie auch hier, in unserem kuscheligen Heimstadion.


Wenn es für mich dann demnächst wieder "nach Ihnen" heißt, geht es aber wirklich mal nicht um Musik, sondern tatsächlich zur Abwechslung um etwas Wichtiges. Klamotten. Ziehen Sie sich warm an, Kasbohm.


Frisch entflammt durchs Universum trudelnd,

Ihr VDL