Donnerstag, 7. Oktober 2010

Stuttgart, ganz oben.





Grüß Gott, Kasbohm.

Home is, where the heart is. Wenn diese einfache, wohlklingende Formel stimmt, ist Stuttgart mein Zuhause. Gerade zwei Jahre habe ich in der Landeshauptstadt am Neckar verbracht, aber wenn ich so zurückschaue, gehören die zu den besten, die ich bislang erlebt habe. Wenn es nicht sogar die Allerbesten waren. 

Stuttgart wurde im Krieg einigermaßen dem Erdboden gleichgemacht und vom "Florenz Deutschlands", wie die Stadt vor Adolfs großer Sause auch genannt wurde, blieb nicht mehr allzu viel Reizvolles stehen. In Stuttgart lauert das vermutlich hässlichste Rathaus im Umkreis von 1.000 Kilometern auf entsetzte Besucher, der Dialekt ist für ungeübte Ohren ein akustischer Graus, wenn man am Sonntag Wäsche wäscht, läuft man Gefahr beim nächsten Einkauf von den Anwohnern bespuckt zu werden und der VfB steht auf dem letzten Tabellenplatz (noch!). Aber trotzdem hat es zwischen dem Häusermeer im Talkessel und mir gefunkt. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Diese Liebe wird halten. Auch ohne Ring oder kirchlichen Segen.

Dementsprechend denken Sie sich schon Kasbohm, wie sich das für mich gerade anfühlt, wenn ich den Fernseher einschalte.  Ich will jetzt gar nicht mit dem ganzen Für und Wider anfangen, auch nicht mit "Oben" oder "Unten". Ich bin für einen Baustopp und dafür, dass Stuttgart oben bleibt. Nicht nur, weil ich Veränderungen verabscheue. Sondern aus einem ganz anderen Grund, der auch viel mit Bahnfahren zu tun hat. Immer dann, wenn ich anderen Leuten von meiner Zuneigung zu Stuttgart erzählt habe, schüttelten die den Kopf, als hätte ich von Novosibirsk oder Castrop-Rauxel gesprochen. Erst recht, wenn man sich nicht zu schade ist, ganz und gar öffentlich Stuttgart der Freien und Hansestadt Hamburg vorzuziehen. Da greift die eine oder andere Hand dann schon mal in die Hosentasche und tastet nach dem Handy, um medizinische Hilfe herbeizuholen. Auffallend an jenen Unterhaltungen war bloß ein oft wiederkehrendes Szenario. Meine Frage: »Warst du überhaupt schon mal in Stuttgart?« Und darauf die häufige Antwort: »Nö, wieso?«

Ich hätte dann natürlich entgegnen können, dass da Blinde von der Farbe sprechen, aber ich war ja auch noch nie in Novosibirsk. Also habe ich mir im Lauf der Jahre einen guten Rat für jene Personen parat gelegt, den ich in den entsprechenden Situationen wunderbar vom Stapel lassen konnte. »Wenn du mal nach Stuttgart fährst, fahr unbedingt mit dem Zug.« Das gilt (zumindest jetzt noch) auch für Sie, Kasbohm. Wenn die ersten weniger attraktiven Ausläufer Stuttgarts erst einmal an Ihnen vorbeigezogen sind, werden Sie mit jedem weiteren Meter zum Ziel durch einen tollen Blick belohnt. Sie werden sehen, wie sich die Stadt zwischen die Kesselhöhen kuschelt, Sie werden Weinberge entdecken, sanfte Hügel mit hübschen Bauwerken, Ausläufer des Schlossparks und vielleicht sogar das Schloss selbst, je nachdem wo Sie im Zug sitzen. (Und wenn Sie dann kurz vor Ihrem Ankunftsgleis an diesem hässlichen Kino-Betonklotz vorbeikommen, machen Sie einfach die Augen zu.) Stutti besitzt bei der Anfahrt per Eisenbahn einen durchaus romantischen Reiz, man möchte sofort ein Viertele Lemberger auf den Tisch gestellt bekommen und für den Rest des Tages einer hübschen Schwäbin beim Spätzleschaben zuschauen. Ohne Scheiß jetzt mal. Probieren Sie das ruhig aus. 

Ich will, dass das so bleibt. Auch, wenn Stuttgart 21 in einem demokratischen Prozess und über einen sehr langen Zeitraum geplant und schließlich beschlossen wurde. Auch, obwohl die Bürger Baden-Württembergs lange gewusst haben, was auf sie zukommt. Denn ich neige selbst dazu, Entscheidungen erst auf den letzten Metern zu treffen, wenn mir die Tragweite wirklich bewusst geworden ist. Der momentane Protest ist beispiellos – sogar in zweierlei Hinsicht. Denn in dieser Form entschlossen und quer durch alle Gesellschaftsschichten aufzustehen und "Nein" zu sagen, hätte man den Hamburgern zugetraut. Selbstredend den Berlinern, auch den Menschen aus Köln, Dortmund oder Leipzig. Aber ganz bestimmt nicht den Schwaben. Der Schwabe ist nicht gerade der deutsche Prototyp in Sachen Aufstand oder Anarchie. Vermutlich waren 1972 auch die Punks in Stuttgart adrett angezogen. 

Wenn man aber jetzt von der geradezu ekelerregenden Art seitens der Politik absieht, die den Konflikt um Stuttgart 21 dankbar zum Wahlkampfthema instrumentiert und so flink die Stellungen wechselt, dass die FDP glatt neidisch werden könnte, sieht man in erster Linie eines. Nämlich dass Kinder und Erwachsene, Omis und Opis, Schlipsträger und HipHopper, Kranke und Gesunde, Ausländer und Inländer nebeneinander im Wasserstrahl der Exekutive stehen. Das finde ich fantastisch. Ich bin stolz auf meine Stadt.

Ich bleib oben, Kasbohm. Bleiben Sie mit?
Adé, Ihr Schwobesäggl 
VDL   



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